ZONE DER FREIHEIT           

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Studio „Lichtstrahl“ (russ. Луч) als Spiegel einer stilistischen Revolution.

Ich erinnere mich genau, dass ich eine ziemlich enge und fadenscheinige karierte Jacke auf den Schultern trug, voller Verwunderung und in längst nicht mehr modernen Schuhen meine Entlassung aus der Arme erwartete. Ich war dünn und leicht gebeugt. Aus heutiger Sicht scheint es mir, dass ich Bulgakows Korowiew stark ähnelte. Nur kleiner und ohne Kneifer. In dieser Weise erschien ich aus meiner provinziellen Ferne nicht nur in der Fakultät für Journalismus, sondern auch zur Versammlung des poetischen Studios „Lichtstrahl“ – in einem stickigen Keller im Haus der Kultur der geisteswissenschaftlichen Fakultät, heute Kirche Tatiana der Märtyrer. Dort traten große und kleine Talente hoffnungsvoll auf, anders als ich, weiter als ich, gründlich gebildet. So schien es mir damals. Ich trat dort mit meinen frühen Gedichten auf, durchsetzt mit meinem südlichen Sprachmix. Dieser Mix, den der deutsche katholische Pfarrer Johann Martin Schleyer geschaffen hatte, hatte sich in meiner Heimatstadt in Neu Russland von selbst verbreitet. Alles in allem schien es mir, als sei ich dieser brillanten Gesellschaft nicht angemessen.

Aber der Kopf dieser interessanten Versammlung, Doktorand der historischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, Igor Wolgin, dachte offenbar nicht so. Er schlug mir vor ebenfalls Gedichte vorzutragen. Leicht beunruhigt, aber nicht ohne Haltung, trug ich einige Gedichte vor – einige von denen, die nie in meinem Leben gedruckt wurden, sondern zu Recht auf dem Abfall landeten. – Egal, dies war mein erster öffentlicher Auftritt.

Glücklose Zwitter

Ich kenne Igor Wolgin seit fast fünfundvierzig Jahren. Das literarische Studio der Moskauer Staatlichen Universität „Lichtstrahl“, wohin ich in den frühen siebziger Jahren wanderte, erreicht dieses Jahr die Fünfzig. An sich ist diese Tatsache nicht so überraschend – sie ist fast unwirklich. So etwas gibt es nicht. Allerdings hat Wolgin, Gründer und Leiter des Studios, vor kurzem berichtet, dass es in unserem Land ein weiteres Studio gibt, das sogar noch länger existiert – das literarische Studio der Marine, mit Sitz in St. Petersburg (Petersburg) aus dem Jahr 1918. Ich denke nicht, dass Wolgin sich sehr ärgerte, als er erfuhr, dass sein Studio nicht das älteste war. Schließlich hat unser Land nicht erst mit der Sowjetunion begonnen, es gab literarische Vereinigungen und Kreise auch schon im 19. Jahrhundert. Außerdem hatte er etwas Glück. Als nämlich der künstlerischen Leiterin des Hauses der Kultur der humanistischen Fakultät, Tamara Smirnowa, 1968 der Gedanke kam, dass es schön wäre, beim Haus der Kultur ein literarisches  Studio zu haben, suchte sie nicht lange nach einem großen Namen. Entgegen allen Regeln bot sie dem Studenten der historischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, dem Autor eines einzigen Buches von Gedichten, dem 26-jährigen Igor Wolgin an, das Studio zu leiten,. Und das, obwohl, er selbst überhaupt keine Leitungsambitionen hatte, und obwohl er nicht glaubte, dass es mehr als ein Jahre überdauern werde.

Man muss sagen, dass es in jenen Jahren im Lande eine große Vielfalt verschiedener literarischer Assoziationen gab. Meistens verbunden mit städtischen, regionalen und großen Zeitungen oder einfach mit einigen Fabrik- oder Dorfvereinen. Offenbar setzte die Sowjetregierung damit die Politik der zwanziger Jahre fort, als man glaubte, dass die Planerfüllung der Arbeiter oder Kolchosniki das Leben besser zeige und dass professionelle Federfuchser es dann beschreiben könnten.  Es ist kein Zufall, dass berühmte sowjetische Schriftsteller ins Dorf geschickt wurden, um dort zu lernen über das Volk zu schreiben. Muss noch gesagt werden, dass die große Mehrheit solcher literarischen Hennen in Routine verfiel? Aber sie entsprachen völlig der Politik der Partei, die Massen des Volkes in die sozialistische Kunst und Literatur einzubeziehen. Als ich nach der Universität, in den späten siebziger Jahren in einer Provinzzeitung arbeitete, gab es noch die Meinung, dass es wichtiger sei jeden Quatsch zu drucken, als Menschen Gedichte schreiben oder Wodka trinken zu lassen. Anscheinend ist es den Leuten nicht aufgefallen, dass es möglich ist, diese beiden Aktivitäten zu kombinieren. Man schrieb und man trank. Jeder schrieb und versuchte sich irgendwie auszudrücken.  Hier muss man sich an Ossip Mandelstam erinnern, der 1923 in seinem Artikel „Armee der Dichter“ schrieb: “…das ist nichts anders als ein glückloser Zwitter,  der versucht das öffentliche Interesse auf sich zu ziehen, das ist schade, aber ein natürlicher Ausdruck des tiefen Bedürfnisses sich mit der Gesellschaft zu verbinden, um an ihrem Spiel lebendigen teilzunehmen.“ Wenn wir ganz ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass diese Worte von Mandelstam bis heute stimmig und relevant sind.

Bildung des Geschmacks

Die Moskauer Staatliche Universität ist kein Dorfklub. Das ist das Erste. Zweitens, an der Wende der sechziger und siebziger Jahre  erinnerte man sich noch gut an die die sogenannte „Tauwetter-Periode“, die Renaissance der sowjetischen Kunst, an  Poesie und Performances in den Stadien und an das Moskauer Denkmal für Wladimir Majakowski, wo der ganz junge Igor Wolgin eine Chance hatte seine Gedichte zu lesen. Und zum Dritten, in das Studio „Lichtstrahl“ kam eine Generation, die aufgrund ihres jugendlichen Alters für das „Tauwetter“ zu spät kam, und vor ihnen schlug die Tür nach dem „Tauwetter“ für Jahrzehnte in Zeitschriften und Verlagen zu. Es war eine neue Generation. Und es war eine sehr talentierte Generation, viel freier als ihre Vorgänger. Die Freiheit, paradox, wie es klingen mag, wurde aus einer Art von Untergang geboren. Sie gerieten damals in Vergessenheit und träumten nicht einmal davon, Teil der offiziellen sowjetischen Literatur zu werden. Dies war die sogenannte „Generation von Hofleuten und Wächtern“, obwohl bei Weitem nicht alle als Wächter und Hausmeister arbeiteten. Sie wollten ganz und gar nicht mehr „sich mit der Gesellschaft verbinden, in das Spiel ihres Lebens einsteigen“.

„Diese erste Generation von ‚Lichtstrahl‘ war brillant“, erinnert sich Wolgin. – Der inzwischen verstorbene Sasha Soprowski ist nicht nur ein Dichter, sondern auch ein mächtiger Forscher, ein Denker (obwohl ein echter Dichter ja kein Denker ist). Namentlich er wurde der Initiator und Organisator der später berühmten poetischen Gruppe „Moskauer Zeit“, in die auch andere Mitglieder des „Lichtsrahl“ gingen – heute berühmt Bachyt Kenscheew, Alexei Zwetkow, Sergei Gandlewski. Zur selben Gruppe gehörte Sascha Kasintsew, der später stellvertretender Chefredakteur von „Unser Zeitgenosse“ wurde. Da war schließlich auch der große Poet und Übersetzer, Eugene Witkowski, der übrigens den Namen des Studios „Lichtstrahl“ erdachte. Und außerdem – Mark Schatynowki, Gennadi Krasnikow, Jefgeni Bunimowitsch, Wladimir Wischnewski, Natalia Wanchanen und auch Paul Nerler, der heute so etwas wie ein Spezialist für Mandelstam ist.

Ich werde nicht alle damaligen Studenten auflisten, weil es viel Platz braucht – ein Artikel ist kein Verzeichnis. Ich füge nur hinzu, dass auf den Spuren der ersten Studenten andere kamen, die heute weithin bekannte Maria Watutina, Elena Issayew, Inna Kabysh Dmitri Mursin, Dmitri Bykow und noch eine ganze Reihe von Dichtern. Die Liste ist übrigens nicht endgültig, sie wächst bis heute.

In meiner eigenen Erinnerung vom ersten Besuch im „Lichtstrahl“ blieb Luft. Das heißt, ich erinnere mich ganz genau, dass es Ende September auf der Straße war, eine frische Brise wehte, den frühen Herbst von Moskau vorausahnend, aber es gab keine Luft. Im stickigen Halbkeller des Hauses der Kultur der Geisteswissenschaften der Moskauer Staatlichen Universität jedoch gab es sie. Ich konnte mir dieses Phänomen nicht erklären. Ja, es gab eine aufgeregte Agitation im Raum. Ja, wir kamen dorthin, um etwas zu sagen, von dem wir nicht einmal selbst wussten. Aber eine Atmosphäre, eine absolut neue Atmosphäre war dort spürbar. Natürlich kann eine Atmosphäre nicht künstlich erzeugt werden. Sie entsteht von selbst oder sie entsteht überhaupt nicht. Und Wolgin hat sie nicht geschaffen. Er störte sie einfach nicht. Dadurch, dass er sich nicht einmischte, schuf er sie. Irgendwie glaubte man ihm sofort. Weil er nicht nur zutiefst gelehrt war und fast die ganze russische Poesie auswendig kannte, er war auch noch sehr freundlich. Er war ein guter Psychologe. Ich erinnere nicht einen Fall, dass er jemanden heftig, beleidigend kritisierte. Selbst eingefleischte Graphomanen nicht. Weil er wusste: Jeder Autor ist tief verwundet, er darf nicht beleidigt werden. Im Gegenteil, man muss immer die richtigen Worte finden, um sie zu ermutigen. Außerdem wusste er wohl auch, dass es unmöglich ist zu lehren, wie man ein Dichter wird. Aber Geschmack kann man fördern. Und Geschmack ist für den Schriftsteller nie überflüssig.

Die Revolution des Stils

Ich zitiere die Worte Bachyt Kenscheews über Wolgin aus diesen Jahren: „Unser Mentor vertrat ein System poetischer Werte, für das er,  streng genommen, sieben Jahre hätte einsitzen müssen. In seiner Kritik gab es Zitate aus dem Goldenen, dann aus dem Silbernen Zeitalter; Worte aus dem Arsenal der damaligen Kritik wie „Staatsbürgerschaft“ oder „Formalismus“ wurden nie erwähnt. Verse der Studios beurteilte er ausschließlich nach ihrem künstlerischem Wert.“

Bachyt hat dies fast alles richtig formuliert, aber den Gedanken nicht zu seinem logischen Ende gebracht. Formal, natürlich, gab es keinen Grund Wolin ins Gefängnis zusetzen.  Im Studio war keine Politik zugelassen. Dann, außerhalb unserer Meetings, in irgendeiner Küche und hinter einem facettierten Glas – ja. Die Atmosphäre des Studios wurde von seinen Teilnehmern natürlich nach außen getragen. Aber sonst gab es keine Einschränkungen. Bei den Lesungen selbst verursachten unbeholfene Versuche, gereimte politische Manifeste auszusprechen, außer einer Meinung nichts. Platituden. Selbst politische Vulgarität, ist Vulgarität und wird es bleiben. In einem der Interviews erklärt Wolgin: „Ich habe versucht, das Gespräch in den Koordinaten der Kultur zu führen, und das schließt Vulgarität aus. Einschließlich politischer Vulgarität. Natürlich mussten wir die Spielregeln beachten, um die Gänse nicht zu ärgern. (d.h. die Partei nicht zu reizen, ke) Und unser Studio war kein Dissident. Aber Kultur selbst ist ein Akt des Widerstands – in dem Fall, wenn ‚Macht widerlich ist, wie die Hände eines Barbiers‘.“

Aber auf den Sitzungen des Studios wuchs allmählich ein anderes aufrührerisches Gedankengut, vielleicht erscheckender für die sowjetische Regierung als politische Manifeste. Innerhalb des „Lichtstrahl“ reifte ein revolutionärer Stil. Viele erinnern sich an die Worte, die Andrei Sinjawki vor Gericht sagte: „Ich habe stilistische Meinungsverschiedenheiten mit dem sowjetischen Regime.“ Damals wurde das nicht von allen verstanden. Um genau zu sein, hat fast niemand die Worte von Andrei Donatowitsch verstanden. Ist doch Stil aber das Wichtigste, wovon der offizielle Staat lebt. So haben die talentiertesten Studenten von „Lichtstrahl“ “ stilistische Meinungsverschiedenheiten mit Behörden entwickelt. Sehr früh zeigten sie sich. Übrigens, als ich jung war, als ich noch Dichter in den Anfängen war, war ich wirklich erstaunt: Warum drucken Zeitschriften nicht meine talentierten Kameraden? In ihren Gedichten gab es schließlich keine Politik. Selbst wenn sie Dissidenten waren, war das nicht in ihren Versen. Später wurde mir klar, dass die Abteilungen für Poesie in gedruckten Publikationen auch von sehr talentierten Leuten geleitet wurden. Deren Haupttalent bestand darin, dass sie den Weg jenseits eines Worts bei anderen Leute verspürten. Ausländisches Vokabular und vor allem fremden, nicht-sowjetischen Stil.

Dieser neue Stil hat sich faktisch bereits in den achtziger Jahren in der Literatur materialisiert und sich auf den Seiten von Zeitungen und Zeitschriften verbreitet. Der alte sowjetische Stil wurde gestürzt.  Und nach ihm – die sowjetische Regierung. Weil der verbrauchte sowjetische Stil nichts mehr als Ironie verursachte.

Staat im Staat

Heute ist es schon schwer zu beurteilen, ob Igor Wolgin im Rahmen eines gut konzipierten Programms arbeitete oder ob er intuitiv handelte. Genauer gesagt – durch Talent. Gleichwie gelang es ihm in gewissem Sinne, eine Art Staat im Staat zu schaffen. Eine Art Druckkammer im luftleeren Raum. Und viele, schwer atmend, nahmen Sauerstoff mit sich und lebten bis zur nächsten Begegnung, bis zu neuen Gedichten und zu neuen aufrührerischen Gedanken für Zeiten poetischer und philosophischer Öffnungen. Schließlich träumten wir, dass die Atmosphäre eines kleinen Studios eines Tages aus dem Studio, hinter dem Keller, ausbrechen und sich auf das ganze Land ausbreiten würde. Wir träumten, nicht ahnend, dass die Vorsehung keine Poesie erfordern würde, sondern etwas ganz anderes. Sie forderte, dass Sasha Soprowski mit noch nicht vierzig Jahren unter die Räder eines Lastwagens kam. Sie forderte, dass Lescha Swetkow, Alex Swetkow, Bachyt Kenscheew und einige andere in die Emigration gehen mussten, so der frühere  Liberale Sasha Kasintsew, stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift „Patriot“, so auch zum Beispiel Eugene Bunimowitsch – Stellvertreter des Moskauer Parlaments. Leider ist es heute so, dass Dichter ihre Bücher in dürftiger Auflage veröffentlichen, auf ihren Abenden eine Handvoll verrückter Außenseiter versammeln, die dabei vollständig von den Werten ihres Landes abrücken. Ja, von den Werten, wenn nicht überhaupt vom Lande selbst.

Und doch waren die Kellergespräche in den kleinen Universitätsstudios damals das realste Leben, echt für uns und nicht nur das. Es war eine Zone der Freiheit, Staat im Staat, in die man mindestens einmal in der Woche auswandern konnte, um etwas frische Luft holen. Diese Luft, die, wenn wir ehrlich sind, auch heute nicht ausreicht.

Und was ist mit Igor Leonidowitsch Wolgin? – Immer  noch leitet er das poetische Studio „Lichtstrahl“ und bringt dessen Existenz in das Jubiläumsalter: fünfzig!

Jefim Berschin

Übersetzung Kai Ehlers

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