Was geschieht mit Russland?Jefim Berschin

Was geschieht mit Russland?

Eine Freundin kam nach Moskau. Ehemalige Kommilitonin an der Universität. Russisch, aber seit fast vierzig Jahren lebt sie außerhalb von Russland. Nein, sie kommt von Zeit zu Zeit, schaut, hört zu, versucht zu verstehen. Aber sie versteht nicht. Dabei ist sie selbst Journalistin. Sie weiß sehr gut, was Propaganda ist und wie sie gemacht wird. Sie vertraut ihr nicht sehr. Und trotzdem. Wir gehen auf den Markt. Der Markt quillt über vor Fülle. Sofort die Frage: Woher kommt das alles? Es schien doch, dass es nichts gab, die Produkte wurden im Ausland gekauft, und hier – Fülle. Zudem noch – alles eigene. Mit Ausnahme von Bananen und anderen exotischen Früchten, die in unseren Breiten nicht wachsen. Nun, auf diese Frage kann ich antworten: Der Markt hat sich auf Grund der Gegenkräfte befreit und die Menschen haben begonnen selbst zu produzieren. Klar doch, wenn der Markt voll ist, wird niemand etwas tun – es wird nirgends zu verkaufen geben. Wir gehen weiter. Freitag. Im Zentrum von Moskau sind alle Cafés und Restaurants bis auf den letzten Platz besetzt. Es gibt keinen freien Platz. Meine Begleiterin sieht sich verwirrt um und versteht wieder nicht. In dem Land, in dem sie lebt, wird allgemein angenommen, dass Russland stirbt. Das schreiben fast alle Medien.  Aber irgendwie überlebt es. Es lebt hart, aber es lebt. Und zurzeit sogar sehr munter, Hunderttausende von Menschen, die zur WM kamen und eine Rekordmenge Bier tranken, konnten sich davon überzeugen. Und Produkte gibt es reichlich, die Polizei ist im Ganzen höflich, die Menschen sind freundlich, von einer allgemeinen Diktatur ist keine Rede. Und da stellt meine Freundin, mitten auf der turbulenten Kamerger Straße plötzlich die einfache Frage: Was passiert in Russland und mit Russland?

Sich selbst verstehen

In der Tat, was passiert mit Russland? Auf diese Frage wird man Ihnen sofort ein paar Dutzend Antworten geben, die mehrere Dutzend neue Fragen hervorbringen. Selbst alle Probleme der letzten 27 Jahre seit dem Zusammenbruch der UdSSR aufzulisten wird kaum Erfolg haben. Weil es viele von ihnen gibt. Sehr viele. Große und kleine. Und übrigens auch Erfolge. Man kann viel über Korruption sprechen, über die unvollendete Demokratie westeuropäischen oder amerikanischen Typs, über kleine Renten, über das schwierige Leben von kleinen und mittleren Unternehmen. Oder, im Gegenteil, über die Armee, die aus der Asche wiederbelebt wurde, über die Rückkehr vieler Unternehmen und sogar ganzer Industrien ins Leben. All dies ist natürlich wichtig. Aber das ist nicht die Hauptsache. Auch wenn man weitere Einzelheiten auflistet, wird es nicht möglich sein, auf den Punkt zu kommen. Vor lauter Bäumen wird man den Wald nicht sehen.

Daher ist anzumerken, dass eines der beiden wichtigsten Probleme, mit dem das moderne Russland konfrontiert ist, das Problem der Selbstidentifizierung ist. Unter den neuen postsowjetischen Bedingungen versucht das Land sich auf neue Weise zu verwirklichen. Es versucht zu verstehen, was es darstellt und was sein Platz in der Welt ist. In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war die überwältigende Mehrheit der Menschen, einschließlich der Führung des Landes, entschlossen, sich organisch in die westliche Welt zu integrieren und westliche Werte in Russland einzuführen. Das Land öffnete sich beispiellos. Aber es war weder bereit für die sogenannte „Schocktherapie“, noch für eine Marktwirtschaft, noch für die automatische Übertragung westeuropäischer Werte auf russischen Boden. Das Ergebnis war beklagenswert. Die massenhafte Verarmung der Bevölkerung und die faktische Abschaffung der Staatlichkeit waren das Ergebnis schlecht durchdachter Reformen. Über zweieinhalbtausend der besten Unternehmen wurden geschlossen. Ganze Industrien verschwanden. Die Arbeitslosigkeit brach alle denkbaren Rekorde. Zusammen mit den endlosen militärischen Auseinandersetzungen in den Außenbereichen der ehemaligen Sowjetunion und dem Krieg in Tschetschenien geriet das Land an den Rand der Existenz. Der Versuch, Teil der westlichen Welt zu werden, ist eindeutig gescheitert. Stattdessen ließen die neunziger Jahre ein dreiköpfiges politisches Monster, in seinen Grundzügen bestehend aus oligarchischem Kapitalismus, unreifer Demokratie und mildem Totalitarismus, im Lande entstehen.

Flucht aus kolonialer Abhängigkeit

Versuche, sich selbst und ihren Platz in der modernen Welt zu definieren, dauern bis heute an. Aber eine klare staatliche Politik in diesem Bereich gab es nicht, kann es nicht geben. Weil nichts künstlich erfunden werden kann. Ideen müssen im Einklang mit der Mentalität, Geschichte und kulturellen Eigenschaften der Menschen stehen. Aber es gibt nicht nur eins, sondern viele Völker in Russland, etwa zweihundert. Dazu alle Weltreligionen, die komplizierte Geschichte jeder einzelnen der ethnischen Gruppen und die Besonderheit ihrer Kulturen.  All das musste zusammengeführt werden. Die historische Erfahrung mit diesen Fragen der Einheit zählt in Russland nach vielen Jahrhunderten. Weder Russland noch Moskau noch die Kiewer Rus waren jemals ethnische Staaten, nie rein russische Staaten. Dutzende ethnischer Gruppen beteiligten sich an der Gründung der russischen Staatlichkeit. Daher können alle hier lebenden Völker sicher als indigen angesehen werden. Genau das haben die Reformer der neunziger Jahre nicht berücksichtigt.

Der Krieg in Jugoslawien war ein Wendepunkt und entfremdete schließlich die überwiegende Mehrheit der russischen Gesellschaft von einem bestimmten Teil der westlichen Werte. Darüber hinaus ist die russische Gesellschaft zu dem Schluss gekommen, dass die westliche Idee der Globalisierung nur im Interesse der wirtschaftlich hoch entwickelten Länder liegt – der Länder der „goldenen Milliarde“, wo für Russland schon kein Platz mehr ist. Weder neue imperiale Ideen, noch Ideen des Eurasismus, noch Versuche, die Idee der sogenannten „russischen Welt“ zu begründen, fanden Unterstützung. In der Situation, in der die Existenz des Landes in Frage gestellt war, trat so ein anderes wichtiges Problem in den Vordergrund: das Problem der Unabhängigkeit und Souveränität. Denn in den 1990er Jahren wurde Russland zu einer eigentlichen Kolonie, die fast vollständig von Krediten und Importen abhängig war. Selbst das Vorhandensein unermesslicher Energieressourcen löste das Problem nicht, da diese Ressourcen in die Hände von nicht sehr gewissenhaften Besitzern gelangten, die keine Eile hatten, das Staatsbudget zu füllen.

Russland war nie eine Kolonie. Selbst das berüchtigte mongolisch-tatarische Joch muss eher als Kooperation gesehen werden. Ja, abhängig, aber Kooperation. Auch von ihm hat man sich schließlich befreit. Das russische Volk kann den Gedanken einer Abhängigkeit einfach nicht zulassen. Hier sieht man den größten Fehler der Reformer der 1990er Jahre: Ihr Bestreben, alle Probleme ausschließlich auf die Wirtschaft und die Marktbeziehungen für Russland zu reduzieren, ist inakzeptabel, insofern sie das Selbstbewusstsein der Menschen sehr negativ beeinflussen. Es gibt wichtigere Dinge: Unabhängigkeit, Freiheit von äußeren Einflüssen. Daher ist der Kampf für die Unabhängigkeit eine der Essenzen des modernen Russland.

Die Zeit wird es zeigen

Von den meisten Abhängigkeiten befreit, ging Russland schließlich seinen eigenen Weg. Welchen? Das kann kaum jemand formulieren. Auch ich konnte dies meiner Freundin nicht erklären, inmitten der funkelnden Feuer des reichen Moskaus, das sich kaum von den größten westlichen Städten unterscheidet. Das in seinem Ausmaß und in vielerlei Hinsicht ihnen überlegen ist. Alle Veränderungen der letzten Jahrzehnte lagen uns vor Augen. Aber erklären, wie das Land, nachdem es seinen eigenen unbekannten Weg gegangen ist, die Katastrophe hinter sich ließ und seinen Einfluss in der Welt wiedergewonnen hat, kann niemand. Kann man vielleicht schon, aber Erklärungen dafür gibt es, wie bereits erwähnt, Dutzende, wenn nicht Hunderte. Für Russland ist das jedoch normal. Der Kampf für Unabhängigkeit und der Versuch, uns in der neuen Realität zu verstehen, gehen weiter und werden noch lange andauern.

Ich weiß nicht, was genau meine Freundin verstanden hat und was sie mit in ihr Land nehmen wird. Zweifel? Erstaunen? Einen Haufen ungelöster Probleme? Die Hauptsache ist, dass sie nichts erfindet, sondern die Situation akzeptiert: Russland bewegt sich auf sich selbst zu. Wohin auch immer es kommt – die Zeit wird es zeigen.

Jefim Berschin

Übersetzung: Kai Ehlers

Das russische Original ist hier >>>

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