Staatskult vom FeinstenFasbender, Dr Thomas a © russland.news

Staatskult vom Feinsten

Der Russlandflüsterer

Russland ist nun wirklich wieder da. Zu dieser Feststellung hätte es Wladimir Putins zweieinhalbstündiger Rede zur Lage der Nation nicht bedurft, doch es passt zum russischen Selbstverständnis, das eigene Comeback als Vollzugsmeldung vor der Geschichte zu inszenieren.

Die Aufführung war Staatskult vom Feinsten: der Präsident im Kleinformat vor der riesigen, blauen Leinwand mit den Umrissen des Landes. Wobei in Putins betont bescheidenem Zurücktreten hinter den Staat, dessen Vollmacht er besitzt, fein dosierter Personenkult mitschwang. Auch die Ortswahl war bezeichnend: die Manege, eine überlange klassizistische Reithalle aus dem Jahr 1812 außerhalb der Kremlmauern, ein Funktionsbau, unbehelligt von der Symbolik der Vorgängerstaaten Imperium und Sowjetreich.

Die Veranstaltung mit ihren tausend Zuhörern – Ehrengäste und beide Kammern des Parlaments – war spürbar der Versuch, ein neues Russland für eine neue Epoche zu präsentieren. Ein Russland, dass sich gefunden hat. Fast vier Jahre nach der Annexion der Krim und zweieinhalb Jahre nach Beginn des Militäreinsatzes in Syrien ist die Zeit reif. Beides waren erfolgreich exerzierte Manöver, vor allem aber Auslöser für eine Neudefinition der Stellung Russlands in der Welt.

Der Einsatz in Syrien hat nicht nur dem dortigen Präsidenten Baschar al-Assad die Macht gerettet. Seither blicken selbst untereinander zerstrittene politische Führer in der Region mit Respekt nach Moskau. Aus Sicht der Mächtigen kam das Abrücken der USA von ihrem ägyptischen Verbündeten Hosni Mubarak 2011 einem Verrat gleich. Dagegen bedient Putin, der in Syrien den legitimen Machthaber stützt, das herrschende Rechtsgefühl. Die türkische Entscheidung zum Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 steht in einem ähnlichen Zusammenhang. Muss nicht auch Recep Tayyip Erdoğan befürchten, dass die USA sich irgendwann gegen ihn stellen? Das russische Waffensystem, das auch gegen NATO-Militär eingesetzt werden kann, ist seine Lebensversicherung.

Ein weiterer Rückschlag für die USA war Donald Trumps Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels. Washington ist heute im arabisch-muslimischen Raum weitgehend marginalisiert, Moskau als neuer Mediator akzeptiert. Die Moskaureise des saudischen Königs im Oktober war ein Meilenstein. Zwei Jahre nach Beginn der Syrienoperation genießt Russland das Vertrauen aller Regionalmächte – Türkei, Saudi-Arabien, Israel, Iran – ungeachtet deren interner Rivalitäten und Konflikte.

Verglichen mit Syrien war die Annexion der Krim im Ausland kein Erfolg, im Gegenteil. Umso gravierender waren die Folgen für die außenpolitische Selbstverortung. Der Moskauchef des amerikanischen Carnegie-Instituts, Dmitri Trenin, interpretiert die Ukrainekrise 2014 als Abschluss zweier Findungsphasen des russischen Staates nach dem Untergang der Sowjetunion:

Die erste Phase sei gekennzeichnet gewesen durch wiederholte und letztlich gescheiterte Versuche zur Integration Russlands als gleichberechtigtes Mitglied der westlichen Gemeinschaft, von Boris Jelzin nach 1991 bis Wladimir Putin Anfang der 2000er.

Die zweite Phase, nach der erfolglosen Westeinbindung, war der Versuch einer Re-Integration des postsowjetischen Raums im Rahmen der Eurasischen Union. Indem die Ukraine sich dem Projekt 2014 entzog, war auch dieses Vorhaben gescheitert. Nur mit Kasachstan und Weißrussland als nennenswerten Partnern fehlt dem Plan die Geschäftsgrundlage. Hinzu kam, dass beide Länder nach der Krim-Annexion deutlich auf Distanz gingen. Schließlich erinnert man sich dort genau, wie willkürlich einst die Grenzen zu Russland gezogen wurden, nicht viel anders als 1954 bei der „Schenkung“ der Halbinsel an die Ukraine.

Damit waren beide Projekte gescheitert: die Integration in die westlich dominierte Völkerfamilie und die Re-Integration mit dem „nahen Ausland“, wie die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken in Russland genannt werden.

Für Trenin liegt in der Erfahrung des Jahres 2014 der Anstoß zur Besinnung der russischen Politik auf sich selbst. Ein schmerzhafter, doch letztlich heilsamer Prozess mit dem Ergebnis, sich als Staat sui generis zu sehen, als Nation von eigener Art. Nicht im Sinn einer historischen Mission wie im Fall des US-amerikanischen Exzeptionalismus, sondern aufgrund der geographischen Ausdehnung als einziges wirklich „eurasisches“ Staatsgebilde mit Grenzen von Norwegen bis Nordkorea. Der Identität nach weder europäisch noch orientalisch oder asiatisch geht Russland seinen Sonderweg im hohen Norden. Lage und Umfang rechtfertigen auch den russischen Großmachtanspruch, ungeachtet dessen, dass Russland weder bei der Wirtschaftsleistung noch bei den Rüstungsausgaben mit China und den USA auch nur ansatzweise mithalten kann. Die territoriale Ausdehnung kompensiert gewissermaßen die 14 teuren Flugzeugträgergruppen der USA.

Dennoch bleibt die historisch begründete Angst vor Einkreisung und Einmarsch. Die posttraumatische Störung, die sich mit den Jahreszahlen 1812 und 1941 verbindet, ist dem kollektiven Unterbewussten tief eingebrannt. Daher auch die Angst, die Kapazität zum Zweitschlag zu verlieren, also einen vernichtenden Angriff nicht mehr vergelten zu können. Das sollen nun die von Putin angekündigten Hyperschallwaffen und Nukleartorpedos verhindern – Vorboten einer post-ballistischen Raketenzukunft.

Dem Gegner die Lust zum Angriff zu nehmen war das Motiv für den waffentechnischen Teil seiner Rede. Derzeit überschätzen beide Großmächte, Russland und die USA, ihr jeweiliges Gegenüber und dessen Absichten, auch weil sie spüren, wie schwach sie selbst sind. Das Ergebnis ist eine für den Weltfrieden nicht ungefährliche Melange.

Illusionen hinsichtlich der strukturellen und wirtschaftlichen Lage macht Putin sich keine. Gemessen am Potential ist die russische Wirtschaftsleistung bescheiden. Die Industrie ist immer noch viel zu rohstofflastig und der Staatssektor aufgebläht. Eine Operation wie Syrien kann aus dem Verteidigungsetat bezahlt werden (keine zehn Prozent des NATO-Budgets) – viel mehr aber auch nicht. Dass die Infrastruktur dringend neuer Investitionen bedarf, ist offensichtlich, auch die Korruption, aufgrund derer sich Infrastrukturprojekte absurd verteuern. Immerhin wird die 19 Kilometer lange Krim-Brücke über die Straße von Kertsch pünktlich fertig – da mag man an den deutschen Hauptstadtflughafen gar nicht denken.

Zurück zu Putins Einschätzung der Lage. In Angelegenheiten des Äußeren ist Russland wieder da, wo es hingehört. Wobei auch heute das Wort Alexanders III gilt: „Russland hat zwei Freunde in der Welt: die russische Armee und die russische Flotte.“ Aktualisiert: Russland hat mächtige Gegner und eine Menge guter Kontakte.

In Angelegenheiten des Inneren hingegen, vor allem der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, ist Russland weit von dem entfernt, was wünschenswert ist. Auch das war zur Zarenzeit nicht anders und wird wohl nie anders sein. Putins Schimpfen über die „Verzögerer“ erinnerte an Michail Gorbatschows Ausfälle gegen die Reformblockierer in den 1980ern. Ineffizienz, Schlendrian und Korruption bleiben der ewige Trost aller Russlandfeinde. Die Vorstellung eines produktiven Russlands, ausgestattet mit unendlichen Ressourcen, einem grandiosen Humankapital, Disziplin und patriotischem Selbstbewusstsein, müssen sie als unerträglich empfinden. Nicht auszudenken.

Die Reaktionen westlicher Medien auf Putins Rede stellen Bedrohungsszenarien, russische Aggression und russische Impotenz in den Mittelpunkt. Der Mainstream kennt nur noch die Argumentation aus der Defensive; jede Veränderung wird negativ interpretiert. Das Muster ist seit Jahren das gleiche: Das russische Comeback ist eine Gefahr, die russische Ineffizienz die einzige Hoffnung. Besitzen diese „Beobachter“ überhaupt irgendein Gespür für Menschen, Geschichte und Politik? Statt Europa aus dem hybriden, postmodernen Krieg herauszuhalten, der zwischen Russland und den USA tobt, geben sich die transatlantischen Gläubigen den Falken als williges Werkzeug in die Hand.

Möglich wurde das, weil wir zwei Dinge verlernt haben: Realpolitik und Neutralität. Indem wir glauben, das Gute in die Welt hinauszutragen – Demokratie, Rechtsstaat, Liberalismus, Menschenrechte –, merken wir nicht, wie man unsere eigentlichen Interessen in geopolitischen Auseinandersetzungen verheizt.

Die amerikanisch-russische Rivalität um Einfluss auf dem eurasischen Großkontinent stellt eine wachsende Bedrohung des Weltfriedens dar. Die US-Militärs wissen genau, warum sie Russland zum „Gegner Nummer Eins“ aufwerten. Nur dass Europa an dieser Rivalität überhaupt nicht partizipiert – wir haben ja nicht einmal eine ernsthafte Mittelmeerpolitik, geschweige denn Machtambitionen in Asien. Trotzdem und mit Hingabe dienen unsere Politiker (und Medien) sich den USA als Hilfswillige an, konstruieren ein Feindbild, das keine Berechtigung hat, und machen den Konflikt zu ihrem eigenen. Alles nur, weil sie vom Kalten Krieg her nichts anderes gewohnt sind, auch wenn der schon 30 Jahre zurückliegt. Dabei hätte die deutsche Politik eigentlich die Aufgabe, Europa aus dieser Falle zu befreien. Hätte, hätte, Fahrradkette. Was wir erwarten dürfen, ist ziemlich das Gegenteil.

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