Putins Waffen – eine Bedrohung für Europa?Unkauf, Urs 2017 bild © Unkauf

Putins Waffen – eine Bedrohung für Europa?

Das militärische Potential Russlands wird häufig im Fahrwasser ideologischer Konfrontationen diskutiert. Eine nüchterne Bestandsaufnahme der tatsächlichen Situation der Truppen und ihrer Ausrüstung wird dabei zumeist unterlassen.

Auch der Vergleich mit der Stärke der NATO wird vermieden – das in sicherheitspolitischen Debatten rasch und häufig bemühte Narrativ der ‚russischen Bedrohung‘ des ‚Westens‘ (unabhängig davon, ob man diesen als Wirtschafts-, Sicherheits- oder abstrakt als Wertegemeinschaft definiert) könnte an Konsistenz verlieren.

Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen der baltischen Staaten und Finnlands, als auch angesichts des fortwährenden Konfliktes in der Ukraine ist eine grundsätzliche Skepsis dieser Länder nachvollziehbar. Daraus jedoch den Schluss abzuleiten, diese – im Falle des Baltikums und Finnlands jedenfalls – abstrakte Angst müsse handlungsleitend für die nationale Sicherheitspolitik sowie Initiativen in multilateralen Formaten werden, greift zu kurz und entzieht sich einer langfristig angelegten, strategischen Perspektive.

Die Zahlen des vom britischen International Institute for Strategic Studies (IISS) herausgegebenen Military Balance Report sowie des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) aus dem Jahr 2016 ermöglichen eine nüchterne quantitative Einschätzung. Vergleicht man die Zahl gefechtsbereiter nuklearer Sprengköpfe, die auf Trägersystemen montiert oder auf Operationsbasen stationiert sind, kommt die NATO auf 2.330 Stück (davon ca. 80% im Besitz der USA), Russland hingegen nur auf 1.790. Betrachtet man den Gesamtbestand, also auch Lagerbestände sowie ausgemusterte, zur Demontage bereitstehende Projektile, verfügte Russland über 7.000 Sprengköpfe, die USA über 6.800, Frankreich über 300 und Großbritannien über 215. Auch bei der Anzahl der Soldaten (ohne Reservisten) stehen 800.000 russischen die über viermal so große Anzahl von 3.410.000 NATO-Soldaten in Gefechtsbereitschaft gegenüber. Wenn man die Reservisten mitbetrachten würde, fällt diese Diskrepanz noch deutlicher zugunsten des transatlantischen Bündnisses aus.

Auch die Marine der NATO-Staaten ist derjenigen Russlands sowohl quantitativ als auch qualitativ hinsichtlich technologischer Aspekte überlegen. 100 Fregatten, Zerstörern und Korvetten auf russischer Seite stehen 260 einsatzbereite Kriegsschiffe des atlantischen Bündnisses gegenüber. Während dieses zugleich über 27 Flugzeugträger einschließlich Hubschrauberträger verfügt, befindet sich lediglich einer in russischem Besitz. Nach dem friedlichen Ende des Kalten Krieges reduzierte die Russische Föderation als Rechtsnachfolger der Sowjetunion seinen Bestand an U-Booten massiv, sodass heute nur noch 60 davon übriggeblieben sind. Die NATO hingegen kontrolliert aktuell mindestens 154 kampftaugliche U-Boote.

Am deutlichsten tritt die Kluft zwischen Russland und der NATO zutage, wenn man die Rüstungsausgaben betrachtet. 2015 betrug die Summe der nationalen Rüstungsausgaben der NATO-Staaten $861 Milliarden. Demgegenüber kommt Russland lediglich auf $66 Milliarden. Im Vorjahr 2014 betrugen die russischen Rüstungsausgaben noch $84,7 Milliarden und damit knapp ein Zehntel des Gesamtbudgets der NATO-Staaten. Bereits 2013 wurden die Rüstungsausgaben Russlands von $88,4 Milliarden gesenkt. Mit einem Marktanteil von 33% sind die USA nach Angaben von SIPRI der weltgrößte Waffenexporteur. Russland belegt mit 23% globalem Marktanteil den zweiten Platz, die Exporte sanken jedoch im Jahr 2017 um 7,1%. Wenngleich Russland im Jahr 2016 $70 Milliarden in Verteidigungsausgaben investiert hat (was einem Anteil von 15,5% am gesamten Staatshaushalt entspricht), so bewegt sich Russland damit im Hinblick auf die absoluten Zahlen näher an Frankreich, Indien (jeweils $55 Milliarden) oder Großbritannien ($48 Milliarden) als an China ($215 Milliarden) oder den USA ($611 Milliarden).

Die im vierjährigen Turnus stattfindenden Militärmanöver werden ebenfalls oft als Indikator einer offensiven Politik Russlands angeführt. Die letzten Übungen mit dem Namen „Zapad“ (Westen) fanden vom 14. bis 20. September 2017 im westlichen Militärbezirk der Republik Belarus statt. Nach Angaben westlicher Nachrichtendienste und Think Tanks waren dabei über 100.000 Angehörige der Streitkräfte von Russland und Belarus beteiligt. Seitens der Regierung von Belarus wurden Vertreter von OVKS, EAWU, GUS und NATO als Beobachter gemäß den Bestimmungen des Wiener Dokuments der OSZE eingeladen. Russland demonstrierte am 1. März die Einsatzfähigkeit moderner Interkontinentalraketen sowie beweglicher Sprengköpfe.

Die aktuellen Zahlen international anerkannter Institute zeigen, dass der Vergleich von nuklearem und konventionellem Streitkräfte- und Ausrüstungspotential sowie der Rüstungsausgaben zwischen Russland und der NATO eine militärische Hegemonie der NATO und darin wiederum insbesondere der USA mit Blick auf Europa offenlegt.

Ausgenommen sind hiervon die Bereiche der Artillerie und Mehrfach-Raketenwerfer, in denen Russland nach wie vor eine Vorreiterrolle einnimmt. Die Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands hat das Vertrauen in die Bestrebungen des Westens um die Schaffung einer gemeinsamen, den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts entsprechende Sicherheitsarchitektur erschüttert. Russland fürchtet infolge des anhaltenden Vertrauensverlustes in die Motive des Westens den Verlust seiner Zweitschlagfähigkeit gegenüber den US-amerikanischen Raketenabwehrsystemen.

Im Zuge einer absehbaren Festigung multipler Zentren von strategischem Interesse – Zentralasien, Südkaukasien, der Mittlere Osten, die ASEAN-Region und zunehmend zwischen China und den USA der pazifische Raum – ringt das transatlantische Bündnis zusehends um Legitimation in Form von Kapazitäten zur Konfliktbewältigung.

Ein aktuelles Papier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik  konstatiert daher treffend: „Putin sollte im NATO-Rahmen und innerhalb der OSZE zu einem echten Dialog gedrängt werden. Auch gilt es, der Gefahr von Missverständnissen und Fehlkalkulationen durch erhöhte Transparenz und einen ständigen Dialog auf politischer und militärischer Ebene zu begegnen.“[1]

 

 

Urs Unkauf (geb. 1994) absolviert sein Masterstudium der Zeitgeschichte und Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor studierte er von 2013-2016 Geschichte und Soziologie an den Universitäten Tübingen und Aix-en-Provence (B.A., Licence d’Histoire). Akademische Projekte führten ihn u. a. nach Israel, Belarus, in die Russische Föderation sowie die Ukraine. Seine thematischen Schwerpunkte sind internationale Beziehungen, Diplomatie, Energiepolitik und die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen.

Er engagiert sich im Deutsch-Russischen Forum, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und dem Bundesverband Sicherheitspolitik an Hochschulen. Ehrenamtlich ist er zudem im Fachausschuss für Internationale Politik, Frieden und Entwicklung der SPD Berlin sowie als Vorstand für Hochschulkontakte der Berliner Regionalgruppe von dialog e.V. – Vereinigung deutscher und russischer Ökonomen tätig. Unkauf nahm 2017 am 48. Young Leader Seminar sowie dem II. Jugendforum der Potsdamer Begegnungen des Deutsch-Russischen Forums teil.

[1] Wolfgang Rudischhauser: Putins Waffenshow. Nur heiße Luft aus Moskau? Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Nr. 7/2018, S. 5. URL: https://www.baks.bund.de/sites/baks010/files/arbeitspapier_sicherheitspolitik_2018_07_0.pdf. Hervorhebungen UU.

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