Putins Botschaft zur Lage der NationSchneider, Prof. Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Putins Botschaft zur Lage der Nation

Am 1. März trug Wladimir Putin seine jährliche „Botschaft zur Lage der Nation“ vor, wozu die Verfassung den russischen Präsidenten in Artikel 84, lit. f, verpflichtet.[1] Vom üblichen Dezember-Termin wurde sie zuerst auf die Zeit zwischen dem 6. und 10. Februar verschoben. Putin soll allerdings mit dem Textentwurf nicht zufrieden gewesen sein, deshalb legte er selbst verstärkt Hand an, so dass der Vortragstermin zuerst auf den 22. Februar und dann noch weiter verlegt wurde.

Der Präsident trug seine zweistündige Botschaft nicht, wie üblich, im stuckvergoldeten Georgensaal des Großen Kremlpalastes vor, sondern in der Zentralen Ausstellungshalle „Manage“, wo ein großer Bildschirm aufgebaut worden war. Die tausendköpfige Zuhörerschaft bestand aus der Föderalversammlung, die von den Abgeordneten der Staatsduma (Unterhaus) und den Senatoren des Föderationsrats (Oberhaus) gebildet wird, der Regierung, den Leitern des Verfassungsgerichts und der Obersten Gerichte, aus den Parteivorsitzenden, den Spitzen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Leitern der Gesellschaftlichen Kammern der Regionen, den Chefs der großen Massenmedien sowie aus weiteren Vertretern des öffentlichen Lebens.

Putins Botschaft kann in vier Themenblöcke eingeteilt werden: Gesellschaftspolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Militärpolitik. Gesellschaftspolitisch stellte Putin als „Hauptbedrohung“ der Entwicklung in Russland die „Verzögerung“ fest, die er zum Feind erklärte. „Wenn wir die Situation nicht ändern, wird sie sich unweigerlich verschärfen. Es ist wie eine schwere chronische Krankheit, die unermüdlich, Schritt für Schritt den Körper von innen heraus unterminiert und zerstört.“ Putin will den „Raum der Freiheit erweitern“ und in „allen Bereichen die Institutionen der Demokratie stärken“, ohne dass er dies konkretisierte.

Wirtschaftspolitisch: Russland sollte „fest in den fünf größten Volkswirtschaften der Welt Fuß fassen“. Zu den Zielvorgaben gehört die 50%ige Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis 2024. Der Anteil der kleinen Unternehmen am BIP soll im nächsten Jahrzehnt 40 % erreichen, und hohe Investitionen in die Infrastruktur sollen getätigt werden.

Sozialpolitisch: Im Jahr 2000, als Putins erste Amtszeit begann, lebten in Russland 42 Millionen oder 29 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Im Jahr 2012 konnte dieses Niveau auf 10 % der Bevölkerung abgesenkt werden. (Die Armutsgrenze in Russland beträgt gegenwärtig 9.828 Rubel Monatseinkommen, das sind 140 €.) Während seiner kommenden regulären sechsjährigen Amtszeit soll die „inakzeptable“ Armutsquote „mindestens halbiert“ werden. Weiterhin sind vorgesehen die Steigerung des Realeinkommens der Bevölkerung, die Stabilisierung der Sozialausgaben, die Erhöhung des Angebots auf dem Wohnungsmarkt, Hilfen bei der Urbanisierung, niedrigere Hypothekenzinsen und die Implantierung eines „speziellen nationalen Programms für den Kampf gegen den Krebs“.

Putin legte den Schwerpunkt seiner Jahresbotschaft auf seine militär-strategischen Ausführungen über die neuen Waffensysteme, die er mittels Computeranimationen vorstellte, was über eine Stunde dauerte: Da ist die schwere Interkontinentalrakete „Sarmat“ zu nennen, die 200 Tonnen in Form von Mehrfachsprengköpfen befördern kann. Sie hat nur eine kurze aktive Flugphase, so dass sie schwer von einer Raketenabwehr erfasst werden kann. Der Überschallraketenkomplex „Kinschal“ („Dolch“) – seit Dezember im Dienst – rase, von einem Flugzeug abgefeuert, mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit bis zu 2000 km weit in sein Ziel. Die neue strategische Waffe „Avantgarde“ steuere in größter Höhe mit Überschallgeschwindigkeit „wie ein Feuerball“ in ihr Ziel. Für zwei weitere neue Waffensysteme rief Putin die Bevölkerung auf, nach Namen zu suchen. Das eine ist ein Marschflugkörper mit nuklearem Antrieb, der ohne Reichweitenbeschränkung in der Lage sei, ständig seine Flugbahn zu ändern, so dass er von keiner Flugabwehr aufgehalten werden kann, seinen nuklearen Gefechtskopf ins Ziel zu tragen. Die andere Neuheit ist ein unbemanntes Unterwasserfahrzeug, das sich in großen Tiefen schneller als ein U-Boot bewegen könne und dessen Torpedo atomare Sprengköpfe tragen können.

Wie beurteilen die russischen Massenmedien die Jahresbotschaft? Die „Nesawissimaja gaseta“ („Unabhängige Zeitung“) führte zu Putins wirtschaftlichen Aussagen aus, dass die Methodologie nicht klar sei bezüglich der Finanzierungsquellen.[2] Der vom Präsidenten beschriebene „Teufelskreis“ bestehe darin, dass das geplante Wirtschaftswachstum zusätzliche Ressourcen erfordere. Der Staat werde aber die Hauptquelle für die Investitionen bleiben.

Laut der Zeitung „Wedomosti“ ist die Jahresbotschaft in zwei große Teile geteilt: Der erste ist den friedlichen Plänen für Russlands „bahnbrechende Entwicklung“ in den nächsten sechs Jahren gewidmet.[3] Der zweite, viel resonantere Teil beinhaltet den Bericht über den Durchbruch, den Russland bei der Entwicklung der neuesten strategischen Waffensysteme bereits erreicht habe. Putin erinnerte daran, dass er 2004 nach dem Rückzug der USA aus dem Anti-ballistischen Raketenabwehrabkommen (ABM) darüber gesprochen habe, an der Schaffung von Systemen zu arbeiten, die dieses Raketenabwehrsystem überwinden könnten. Aber mit Russland wollte niemand reden. „Niemand hat auf uns gehört. Hört jetzt zu.“

Eine weitere Analyse der Jahresbotschaft Putins überschrieb die Zeitung mit „Neues schreckliches und bequemes Russland“.[4] Die „militaristische Ekstase“ Putins in seiner Ansprache sei beispiellos, nicht nur bezogen auf die 18 Jahre neues Russland, sondern auf die „gesamte moderne russische Geschichte und sogar auf die sowjetischen Analogien der Reden Andropows und Chruschtschows“. Das bequeme Russland beschrieb Putin den 70 % der Wähler, die am 18. März für ihn votieren dürften: „Wohlstand für alle, Wohnungen für alle, Internet überall, erschwingliche qualitativ moderne Medizin und Bildung, Entwicklung abgelegener Orte, für Babys Kindergärten, für Mütter Arbeit, für ältere Menschen aktive Langlebigkeit, Naturschutz, Förderung der Mobilität, Unterstützung des Business, Schutz vor gerichtlicher Willkür, weniger Staat in der Wirtschaft und im Allgemeinen die Erweiterung des Raumes der Freiheit.“ Kein Wort verlor Putin über eine politische Modernisierung, so dass man wohl denken müsse, dass diese Frage für die Zukunft irrelevant sei.

Der Vorsitzende des russischen „Rats für Außen- und Verteidigungspolitik“, Chefredakteur der als Pandant zu „Foreign Affairs“ gedachten Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“ und Forschungsprofessor an der staatlichen Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaft“, Fjodor Lukjanow, wies darauf hin, dass die USA in ihrer nuklearen Doktrin von diesem Februar Russland als Rivalen und Gegner bezeichnet habe. „Sie haben einen kalten Krieg erklärt – wir akzeptieren die Herausforderung, und das ist es, was wir haben. Wir gelten als Hauptbedrohung, wir sagen: Ja, wir sind es. Und das ist eine Einladung zum Wettrüsten – vielleicht werden sie uns einholen.“

Der Politwissenschaftler und Direktor des „Internationalen Instituts für politische Expertise“, Jewgenij Mintschenko, betonte, dass die Jahresbotschaft das „Wachsen antirussischer Stimmungen auslösen“ werde, die „Zulassung neuer Aufrüstungsprogramme, Investitionen in den militärisch-industriellen Komplex und die Stärkung des Sanktionsdrucks [auf Russland]“. Der langjährige Politiktechnologe Putins, Gleb Pawlowskij, der 2011 in Ungnade gefallen war, weil er sich öffentlich für eine zweite Amtszeit des damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedew ausgesprochen hatte, ist sich sicher, dass die von Putin in seiner Jahresbotschaft vorgeführten Videos die amerikanischen Militärs nicht erschrecken werden. „Alle Fernsehkanäle, die sich in der Hauptsache mit Russland befassen, werden zeigen: die Krim ist zu wenig und der Donbass; sie wollen die Luft beherrschen, das Meer und die Kontinente.“ Dies werde für Propagandaziele genutzt werden und als Bedrohung der ganzen Welt mit einem Atomkrieg wahrgenommen werden. „Putin startete eine Kampagne zur weiteren Dämonisierung Russlands.“

Die Hauptmotivation für die virtuelle Waffenschau ist meines Erachtens, dass Putin bis heute den Zerfall der Sowjetunion nicht wirklich verwunden hat. So führte er in seiner Jahresbotschaft aus, dass 23,8 % des Territoriums der Sowjetunion verloren gingen, 48,5 % der Bevölkerung, 41 % des Bruttoinlandsprodukts, 39,4 % des Industriepotentials und 44,6 % des Militärpotentials. Putin ist offensichtlich von der fixen Vorstellung beherrscht, dass die USA Russland angreifen werden und dass deshalb das Land mit den USA militärisch gleichziehen, am besten diese sogar überholen müsse, statt sich von seinen eigenen Prioritäten leiten zu lassen. Diesen Fehler machte die Sowjetunion schon einmal zur Reagan-Zeit. Das Ergebnis ist bekannt.

[1]              http://www.kremlin.ru/events/president/news/56957

[2]              http://www.ng.ru/economics/2018-03-01/1_7183_proekt.html

[3]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2018/03/02/752531-oruzhie-putin

[4]              https://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2018/03/01/752521-strashnaya-komfortnaya-rossiya-putina

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